Im Juni 89 geschah das Tian’anmen-Massaker in Peking. Am 1.Oktober feierte China den 40.Jahrestag seiner Gründung als Volksrepublik zusammen mit Staatsgästen, wie Egon Krenz.
Am nächsten Tag titelte die DDR-Staatszeitung ‚Neues Deutschland‘ mit dessen statement: „In den Kämpfen unserer Zeit stehen DDR und China Seite an Seite.“ Am Abend demonstrierten 20 000 Menschen in Leipzig.Die Nerven waren zum Zerrrreißen gespannt. Aus den Lautsprechern erschallte eine Stimme „Hier spricht die Volkspolizei“ und es schallte zurück „wir sind das Volk“. Es wurde ein grandioser Wechselgesang und das Wunder passierte, die vorbereiteten Lager und die in der Wartschleife stehenden Schützenpanzer kamen nicht zum Einsatz.
Die friedliche Revolution nahm ihren bekannten Lauf. Susanne und ihre Familie waren zuvor in die Marktkirche in Halle gegangen, deren Pastoren eine große Papierrolle an der Innenmauer befestigt hatten und einen angebundenen Stift, mit dessen Hilfe man einen Satz unterzeichnen konnte, der handschriftlich über allem stand und sinngemäß lautete: „Ich wünsche mir eine Veränderung der Verhältnisse in der DDR.“ Die Endunterzeichnende führte die Eltern zu der Wand und Susanne unterzeichnete sofort, während Manfred dies nicht konnte. Er ergriff die Hände seiner Lieben, die seinen zitterte, er war offenbar einem Zusammenbruch nahe, wir setzten uns alle in die Kirchenbank und beteten.
Susannes Enkelin hatte kurz zuvor bei einem Montagsgebet die Belagerung der Kirche durch Soldaten mit gezückter Kalaschnikow erlebt, die Courage der zwei diensthabenden Pastoren, die sich ihre Taläre übergezogen und, in diesem Würdenkleid Beruhigung erwirkend, den Ausgang zurückerobert hatten, so daß nun eine Hohlgasse geschaffen wurde, gesäumt von 40 – 50 Soldaten in voller Montur, mimiklosem Gesicht und Waffe im Anschlag, die die Kirchgänger ein endlos langes Stück Spalier laufen ließen. Später hörte man, daß auf der die Marktkirche flankierenden Straßenbahnstation jeder, der die Straßenbahn verlassen, der also möglicherweise zum Montagsgebet in die Kirche wollte, mit einem Schlagstock bedroht worden war. Jedem war klar, daß eine Winzigkeit den Bürgerkrieg provozieren konnte und jeder hatte im Hinterkopf, was das für den Weltfrieden bedeuten würde. Susannes Enkelin hatte in dem Spalier die rücksichtslose maschinenhafte Unpersönlichkeit der militärischer Macht kennengelernt und Todesangst erlitten.
Die 80er waren geprägt vom Kalten Krieg der Blöcke und einem real drohenden atomaren Weltbrand. Susanne hatte dieses Thema vielfach und mit der ganzen Wucht ihrer sehr persönlichen Kriegs-Erfahrungen intoniert. Sie gestaltete es stets zu einem generell pazifistischen Friedensappel. Eines der Bilder aus dieser Reihe kaufte der Leipziger Maler Wolfgang Mathheuer. Sie rief niemals zu einem bewaffneten Kampf für den Frieden auf, wie es die Staatspropaganda gern gesehen hätte, sondern baute stattdessen das Thema sehr feministisch hin, wonach Krieg stets Männersache und der Schutz des Lebens und das Leben überhaupt Privileg der Frauen oder Mütter war. Sie unterstützte damit bewußt oder unbewußt das gedankliche Tableau der (unabhängigen) Friedensfrauen in der DDR (‚die Kraft der Schwachen!‘) und hatte Mühe, das große vom SED-getreuen DFD (Demokratischer Frauenbund Deutschlands) bestellte Auftragsbild „Konfrontation oder Adam und Eva 82“ (heute in der Kunsthalle Rostock), in der von ihr gewählten Form durchzusetzen. Sie war nach den Debatten mit den (nach ihren Aussagen) sehr machtbewußten DFD-Funktionärinnen irritiert und bestürzt und wollte den Auftrag wieder absagen. Genau in diesem Moment bestand aber der DFD darauf, daß sie es male, was dann auch geschah. Darauf erhielt sie den Vaterländischen Verdienstorden, der ihr Angst machte und den zu verweigern oder zurückzugeben – letzteres wurde auch erwogen – sie jedoch nicht wagte.
Das starre pazifistische Regularium, das sie sich zurecht gemacht hatte, oder diese gewissermaßen übermenschliche pazifistische Leitlinie erwies sich als das Einfallstor für die Chefideologen der DDR –hier konnte man sie im Kampf gegen NATO, West-Bündnis und nukleare Hochrüstung staatspropagandistisch verwerten – doch war dieser Pazifismus zu dieser Zeit an diesem Ort möglicherweise das Richtige, denn dieses absolute Einschwören auf Frieden bewahrte vielleicht die späteren Montagsdemonstranten in der DDR vor einem Massaker wie das auf dem Tian’anmen in China und die Welt vor einer Apokalypse. Im Prinzip verteidigte Susanne eine ihr eigene starke, stets freundliche, aber unverführbare Autonomie, sowohl gegenüber den Kollegen, ob nun Usedomer oder Leipziger Schule, wie auch gegenüber den politisch Mächtigen auf den verschiedensten Etagen. Die Tochter kann sagen, daß sie niemals und an keinem Ort den Eindruck hatte, daß ihre Mutter auch nur in Gedanken versucht war, irgendwo irgendjemand‘s Klinken zu putzen.
Sie hatte sich mit ihrem 2. Ehemann Manfred 1949 bewußt für das Leben in der DDR entschieden. Noch kurz vor ihrem Tod lag ihr daran, die Tochter wissen zu lassen, daß es ‚das Soziale‘ war, was sie und ihr Mann diese überlegte Wahl treffen gelassen hatte.
Die nach dem 8. Parteitag und mit der Ära Honeckers und Willi Sittes nach ‚persönlichen Handschriften‘ rufende neue Kulturpolitik der DDR war immer noch restriktiv und mischte sich ein. Darauf reagierte sie oft genug freundlich reserviert bis abweisend. 1976 bürgerte die DDR Wolf Biermann aus, der sich, einer Einladung der IG Metall folgend, auf einer Tournee ‚im Westen‘ befand. Die Ausbürgerung bedeutete, daß er von einer Minute zur anderen nicht mehr zurückkehren durfte in seine Heimat, wo seine Kinder, seine Lieben, seine nächsten Freunde und Weggefährten, sein Publikum, seine vertrauten Wege und privaten Sachen waren. Die Ausbürgerung ging vom Politbüro der SED aus, war aber mit der Volkskammer abgestimmt worden und einer, der da da nicht nur Rektor der Kunsthochschule Burg Giebichenstein, sondern nun auch schon Präsident des Verbandes Bildender Künstler der DDR und Abgeordneter in der Volkskammer war, hatte für die Ausbürgerung gestimmt – Willi Sitte, wie er selbst erzählte, denn das wäre eine ‚unvermeidbare Entscheidung gewesen, die sich die Genossen – Susanne , das kannst du mir glauben – nicht leicht gemacht haben‘. Er verteidigte nicht nur diese Entscheidung, sondern warb für die Zustimmung auf einem Papier, das überall in der DDR herumging und die Bürger zur Unterschrift verpflichten sollte.
Vorher oder danach, jedenfalls in Zeitnähe zu diesem Ereignis, das viele Bürger wie ein Hieb mit einem schweren Knüppel traf – sie hatten soeben ihre Stimme verloren, ihre vernehmbare Kritik, ihre sie aufwühlende Hoffnung auf Veränderung – erhielt Susanne Besuch von mehreren staatstragenden Funktionären, die sie überzeugen wollten, sich von Biermann loszusagen, man sei interessiert an ihr und ihrer Arbeit, es würde bereits an einer hohen Auszeichnung für sie gearbeitet, aber all das wäre zu ihrem und aller Beteiligten außerordentlichen Bedauern, auch zur eventuellen wirklich großen Enttäuschung des Verbandspräsidenten hinfällig, wenn sie sich nicht von Biermann distanziere. Sie zögerte nicht und suchte auch nicht nach Worten, denn die Dinge waren für sie klar, Biermann sei ihr Freund und einen Freund verließe man nicht, auch wenn sie keineswegs immer mit ihm d‘accore sei, er sei ja schließlich Kommunist und sie mehr so Humanist. Entnervt verließ die Abordnung ihr Wohnzimmer.
1977 erhielt sie den Kunstpreis des Rates des Bezirkes Rostock und der in Aussicht gestellte ‚hohe Preis‘ wurde ihr drei Jahre später, nämlich 1979 in Form des Nationalpreises „Für den Anteil der Gestaltung des Menschenbildes in der Malerei“ unerwartet überreicht.
Doch Preise haben meistens Preise. Das offene, menschenzugeneigte Haus der Kandt’s war, wie sich später zeigen sollte, vollständig ‚verwanzt und gemolken‘ worden. Die in Halle lebende Tochter war aufgrund eines Verhältnisses mit einem im kapitalistischen Ausland lebenden Bürger‘ über mehr als ein Jahrzehnt unerklärlichen, sogenannten ‚zersetzenden Maßnahmen’ der Stasi ausgesetzt, die furchtbare Formen annahmen. Susanne feierte ihren 75.Geburtstag in jenen frühen Oktobertagen 89 bei ihrer Tochter in einem großen Kreis von Gästen mit einem Fernseher, dessen Bild ging, und einem substituierenden Kofferradio, das den Ton lieferte, wo die Geburtstagsrunde die Berichterstattung zum Rücktritt Honeckers und zur Machtübernahme des letzten Generalsekretärs der DDR, Egon Krenz, verfolgte und, wenn die Erinnerung ihrer Tochter nicht täuscht, war es der Leipziger Maler Gerhard Kurt Müller, der das Unvorstellbare aussprach: „Paßt bloß auf – wenn ihr wieder (von eurer Westreise) zurück seid, dann gibt es vielleicht die DDR nicht mehr.“ Alle lachten. Keiner dachte im Ernst daran, daß schon einen Monat später die Grenzen geöffnet und wenig später die Blöcke fallen und die beiden deutschen Teile vereinigt sein würden in einer Demokratie, eben jener Staatsform, wo durch Spruch und Widerspruch ein spannungsreicher fliegender Bildteppich geknüpft wird, auf dem die Parlamentarier sitzen und dicht unter des entzückten Gottes Himmel ihre Beschlüsse beschließen, wären da nicht die fiesen Hüter des Zweckmäßigen und der Wiederkehr des immer Gleichen, die Lobbyisten und all die Mechaniker des Nr. Sicher.