Anna Susanna besuchte das Lyzeum im Sinne der Sekundarstufe I. Es folgte eine Buchhändlerlehre. Sie war so 16, als Deutschland von der Weltwirtschaftskrise erfaßt wurde und quasi im Minutentakt der Geldwert verfiel, bis schließlich 1 Brot eine Billion Mark kostete und Susis kleinen Kinder Jahrzehnte später auf dem Boden des großelterlichen Hauses neben den Pickelhelmen, den hübschen Burschenschafter-Tönnchen und dem mächtigen Korbschläger, der Gitarre mit den hundert bestickten Seiden-Bändern, den Bismarck-Fotoalben und der Gasmaske aus dem 1.Weltkrieg, die knittrigen Gebirge von Millionen und Milliarden von deutscher Reichsmark fanden, die kaum, daß sie in Umlauf gekommen, schon verfallen gewesen waren. War es dies und die hohen Reparationszahlungen an die Siegermächte des 1. Weltkriegs, oder der hemmungslose Gebrauch von Vernunft, welche letztere alle zusammenbringt durch ihr Geschäft, das ist die Sprache und dann alle auseinandertreibt durch ihr Geschäft, das ist die Sprache, ist es das, was die erste deutsche parlamentarische Demokratie in die Knie zwang? Ein Münsterianer, (also einer aus dem Himmlischen Jerusalem), namens Heinrich Aloysius Maria Elisabeth Brüning war ihr (der 1. Demokratie) letzter Kanzler und stimmte 1933 dem Ermächtigungsgesetz zu, das die Republik ab- und die nationalsozialistische Diktatur anschaffte. 1 Jahr später war er in Amerika und behauptete autobiografisch, an einer parlamentarischen Monarchie nach englischem Vorbild (s.Kaiserin Friedrich) gearbeitet zu haben, aber das hatte er geträumt.
Susi jobbte gegen Kost und Logis in den mit der Familie befreundeten hohen Adelsfamilien, wo sie das perfekte Decken von schönen Tafeln lernte mitsamt des korrekten Abstands des Tellerrandes und Gabelendes, abweichend vom Abstand gewisser Löffelenden und Dessertellerränder von der Tischkante und sich revanchierte mit Unterricht im Nähen von Paillettenkleidern und dem Tanzen von Shimmy, Jive und Charleston. Man war entzückt.
Um ihr Maltalent zu fördern, kam sie schließlich bei einem Freund des Vaters, dem aus Eisenach stammenden namhaften Bildhauer und Hochschullehrer Prof. Hermann Hosäus unter, der in Berlin Dahlem in einem Stadtschloß lebte mit gewaltigen Eichen-Treppen, die von einem mächtigen Vestibül in ein unübersichtliches Labyrinth endloser dunkler Flure und Etagen führten, in welchen die weißen Gipsabgüsse der schmerzgepeinigten, aus aufgerissenen Mündern stumm schreienden Kriegerköpfe aus Schlüters Werkstatt schimmerten, ihre unheimlichen Augen rollend, und so den kläglich Verirrten vor sich hertrieben, bis dieser endlich auf dem höchsten Treppenabsatz eine bescheidene Eisentür entdeckte.
Hatte er diese aufgeschlagen, eröffnete sich ihm ein duftender rauschender Park, ein Dachgarten mit Wiesen und Wegen und blühenden Büschen und Bäumen, schimmernden Teichen, jubilierenden Vögeln und tanzenden Bienen, wo der Verirrte, betört vom überwältigenden Duft der Linden, sich auf einen Liegestuhl warf und fragte, wo bin ich? Bin ich in Dantes Göttlicher Komödie? Wahrhaftig, ein Blick von der Balustrade zeigte ringsherum bis zum unendlichen Horizont das Purgatorium, das schweigende verwüstete Berlin, in dem noch immer und wie auf ewig die Verlorenen zu schreien schienen.
Im Berlin der frühen 30er, als es noch, was es nun wieder geworden ist, eine lebensvolle Weltstadt war, im Haus des Bildhauers Hosäus, unmittelbar vor dem Zusammenbruch der ersten, am nationalen und internationalen kriegerischen Erbe ihrer Väter und eines amerikanischen Börsenkrachs von exorbitanten Ausmaßen, aber vielleicht auch an dem unkritischen Gebrauch von Vernunft gescheiterten deutschen Demokratie, war also die junge Susi gelandet. Hier zeichnete sie in dem gewaltigen Atelier nach Abgüssen und manchmal auch nach einem ‚lebenden‘ Modell. Hier fand sie eine lebenslange Freundin, nämlich die Tochter des Hausherrn, die Grafikerin Lizzi Hosäus und lernte von ihr die Geisterbeschwörung per Tischrücken.
Hier lernte sie ihren ersten Mann, den zukünftigen Vater ihrer Kinder, kennen, Johannes Paul Christoph Horn. Da Horns verwitwete Mutter nicht zwei Söhnen ein Universitätsstudium finanzieren konnte, hatte man Johannes, den jüngeren, als Kadett in die Plöner Offiziersschule eingeschrieben. Der junge Leutnant der Luftwaffe, der recht locker einen neapelgelben Seidenschal in seiner Uniform zu tragen pflegte, war kunstinteressiert, spielte Querflöte, hatte Unterricht bei Paul Hindemith genommen (s. Hindemith ,Plöner Musiktag‘), inzwischen Inhaber einer Professur an der Berliner Musikhochschule und auch schon Lehrer an der Musikschule Neukölln, heute Paul-Hindemith-Schule) und guckte sich nun um bei dem bekannten Bildhauer Hosäus. Susi und Jonny waren, den Erinnerungen Susis zufolge, Liebe auf den ersten Blick. Sie verlobten sich im Oktober 1939, unmittelbar nach dem Beginn des 2. Weltkrieges. Susi arbeitete nun im Luftfahrtministerium als Beschrifterin der Fernaufklärungsbilder im Rahmen der obligaten Kriegsdienstverpflichtung und genoß die Lobe, die ihr ihre grafische Perfektion eintrug. Ihr Verlobter befand sich bereits, wie man zu sagen pflegt „im Felde“. Das Feld war der Osten und er hatte eine Fallschirmspringerausbildung in Döberitz absolviert, was nahelegt, daß er im 1. Fallschirmjäger-Regiment der Wehrmacht unter General Göring diente. Fallschirmjäger hatten Ausbildung im Nahkampf und wurden im Verlauf des 2. Weltkrieges zunehmend in der asymmetrischen Kriegsführung eingesetzt. Er lernte russisch und in seinen Flöten-Noten von Paul Hindemith schrieb er, mit der ihm eigenen großen, wilden Schrift, kyrillische Buchstaben formend, zwischen die Noten: ja ljubelju Annu Susannu – ich liebe Anna Susanna.
Am 10. Oktober 1940 heiratete das Paar per Ferntrauung. Johannes Horn war zu diesem Zeitpunkt Oberleutnant und in Nord-Afrika eingesetzt, nach Angaben von SKH im DAK (Deutsches Afrika Korps) unter General Rommel. Zeitzeugen berichten, er war beseelt von hohem Anstand und wäre nicht bereit gewesen, diesen im Krieg aufzugeben. „Aber der Krieg ist der Krieg“ gab ich zu bedenken. Tante Charlotte Kühner-Nebe, Tochter des namhaften linksliberalen Eisenacher Verlegers und Landtagsabgeordneten Philipp Kühner, spätere 1. Frau von Susis Bruder Wolfgang und Schwester des streitbaren katholischen Theologen Hans Kühner, erwiderte ernst „Der Jonny war der Jonny. Sehr sehr besonders.“
Im September 1942 gebar die nunmehrige Susi Horn den Sohn Falk Degenhart Cornelius Rembrandt Welf. Anfang 44 trafen sich Susi und Jonny im schönen Schloß der Gräfin Stolberg, der Patentante von Falk. In der Nacht träumte Jonny, ein Mann sei ganz freundlich auf ihn zugekommeni mit einem Bauchladen, auf dem Äpfel ausgelegen hätten. Der Händler hätte ihn gedrängt, einen Apfel zu nehmen, sie seien so süß. Er hätte, eigentlich nur aus Höflichkeit, zugegriffen und – den Apfel bereits in der Hand – erkannt, daß dieser eine Handgranate gewesen sei, die in dem Moment der Erkenntnis bereits explodierte. Er stand auf, er weckte seine Frau, er schrie, „ich habe soeben meinen Tod geträumt!“ Sie versuchte ihm das auszureden. Im Frühling schrieb er aus Griechenland, es hätte ihm geträumt, sie, Susi, würde eine Tochter bekommen, diese hätte rotes Haar, weshalb er ein türkisfarbenes Taufkleidchen mitschicke und für das Taufwasser eine messingne Kanne mit Becken aus alter arabischer Werkstatt. Es klang, als wüßte er bereits, daß er die Tochter nie zu Gesicht bekommen würde. Er sah um sich herum den Balkan unaufhaltsam zerbrechen. Er sah das nackte Grauen. Er dachte an den Tod. Er grübelte in seinen Briefen über Soldatenehre und den hohen Eid, den er geschworen hatte. Am 4. August 1944 erhielt der Stabsoffizier Johannes Horn von dem Oberstleutnant seiner Einheit den Befehl, die Ponte Vecchio in Florenz hinsichtlich ihrer Sicherheit zu überprüfen. Johannes Horn, der sich vermutlich mit seinem Stab zur Verstärkung der Gotenlinie im Raum Florenz befand, fuhr wenig später unmittelbar am Fuße der Ponte Vecchio, so hieß es, auf eine Mine. Im Rahmen der Sicherung Norditaliens, beschloß das deutsche Oberkommando, alle Brücken über den Arno zu sprengen. Auf ausdrücklichen Befehl Hitlers war dabei eine einzige Brücke ausgenommen, die berühmte uralte Ponte Vecchio zu Florenz. Die italienischen Partisanenverbände und kommunalen Widerstandsgruppen versuchten ihrerseits, die Arno-Brücken mit allen Mitteln zu schützen, um den Vormarsch der Alliierten zu beschleunigen. Wie kam die Mine zur Brücke? Die Explosion zerriß Johannes Horn, seinen Fahrer, seinen Schäferhund und seinen Jeep, so teilte es die Wehrmacht der Witwe in einem Schreiben mit. Als Anna Susanna die uniformierten Überbringer der Nachricht den Gartenweg zum Palmentalhaus hinaufkommen sah, schrie sie gellend „Nein! Nicht! Nein!“ und rannte in den über dem Garten gelegenen Wald und warf sich gegen die Bäume. Die ganze Mannschaft des Hauses holte sie von dort weg, brachte sie in ihr Zimmer, wo sie tagelang stumm vor sich hin weinte. Ein Grab oder identifizierte sterbliche Überreste, so weiß man heute, gab es nicht. Erst nach der Wende 1990 wurde mit Unterstützung der Kriegsgräberfürsorge der Name Johannes Horn in die große Tafel der Kriegsgräbergedenkstätte am Futa Paß eingraviert.
Im Oktober 1944 brachte Susi die vorausgesagte Tochter zur Welt. Sie erhielt den Namen Ricarda nach der von ihrer Familie verehrten Schriftstellerin Ricarda Huch. Die Namenswahl war eine öffentliche Positionierung.