Wolf Biermann über die Ückeritzer Zeit:
Liebe Ricarda, wenn in dem geplanten Erinnerungs-Buch zum 100. Geburtstag Deiner Mutter Susanne diese beiden Briefe abgedruckt werden, erst Deiner über unsere Talkshow vor kurzem bei Markus Lanz , dann meine viel zu lange Antwort , dann bin ich gerne dabei.
Wenn Du aber zu wenig Platz hast, oder wenn Dir mein Brief zu lang oder dubios oder peinlich ist, dann kannst Du auch gerne den zweiten – also den mittleren – Teil meines Textes wegschmeißen. Mein Brief aber, korrigiert, gekürzt oder verbessert, nur, wenn ich den Veränderungen per eMail oder Telefon zugestimmt habe.
Wolf am 19. Januar 2014 in Altona
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Lieber Wolf, es ist bald Weihnachten, wo ihr Euch auf das Essen freut, wie Ihr bei dem Lanz erzählt habt. Ich fand Dich da in der Runde bezaubernd, so jung und der einzige, der was drauf hatte! Und unverschämt fröhlich! Hinreißend!. Die alten Zeiten waren wieder da. Ich habe mich sehr sehr gefreut, Euch so wohlauf zu sehen! Pamela soll sich keine Sorgen machen, daß sie nur als Dein Angebinde wahrgenommen wird. Sie ist zweifelsohne ein ganz eigenständiger starker Mensch. Ich wäre gern zu Eurem Konzert ins BE gekommen, aber der Weihnachtsmonat ist traditionell der mit den entsetzlich vielen Terminen. So konnte ich leider nicht kommen.
Wir werden vielleicht hier eine Festschrift zum 100. Geburtstag von der Susanne herausgeben. (Sie wurde 1914 geboren.) Mit „wir“ ist der Usedomer Kunstverein gemeint und mit „vielleicht“, daß ich die Festschrift nur machen werde, wenn man mir die Redaktionshoheit überläßt. (Ich bin schon lange nicht mehr die Vorsitzende.) Könntest/würdest Du vielleicht zu Susannes 100. ein paar Sätze schreiben? Oder ein Gedicht? Die Susanne würde sich sehr sehr freuen. Ich werde in gleicher Mission noch ein paar Maler fragen, so daß dann vielleicht so etwas wie ein kraftvoller Geburtstagsstrauß zusammenkommt. Meine Mutter würde sich aber über etwas von Dir, glaube ich, am meisten freuen. Hier sollte jetzt das Bild erscheinen, das im Anhang beiliegt, s.o. Beide Eltern liebten und bewunderten Dich und zwar ohne wenn und aber. Das konnten sie, und das können erwachsene Menschen so gut wie nie und sollen sie vielleicht auch nicht können und die Kleinbürger sowieso nicht – sie liebten Dich ohne wenn und aber. Das war groß und wundersam. Mein Vater hatte an seinem Bett bis zu seinem Tod mehrere Gedichte von Dir geheftet. Machs weiterhin gut, junger Wolf, frohe Weihnachten und guten Appetit! und ärgere Dich meinetwegen, wenn ich mal nicht Deiner Meinung bin, aber nicht zu sehr!
Ricarda – 19. Dezember 2013
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Liebe Ricarda,
Dein freundschaftlicher Brief hat mich angenehm irritiert. Es geht also nicht um Israel, sondern um den 100. Geburtstag Deiner Mutter. Mein Groll gegen Dich, wegen der leidigen Judenfrage, hat inzwischen an Furor verloren, ich weiß selber nicht warum: aus weiser Resignation oder aber aus dummer Klugheit .. Unser chronischer Streit über diesen uralten Konflikt soll uns nicht in stumme kalte Zwietracht treiben. Ich denke: Du bist nur so giftig gegen die Politik des Staates Israel aus evangelischer Liebe zu dem kleinen Rebbe aus Nazareth.
Zum Gedenkbuch für Deine Mutter will ich gern ein paar Sätze beitragen.
Der Gedanke an die Malerin Susanne Kandt-Horn in Ückeritz auf Usedom lockt mich in lebendige Erinnerungen an unsere Begegnung im kleinen Weltuntergang des Jahres 1965.
Es war das gräuliche Jahr des Großen Kahlschlags. Damals inszenierte ja die SED das Schlachtfest gegen die Kultur, das spektakuläre 11. Plenum des ZK im Dezember.
Ich wurde zum ersten Mal im ND geächtet als ein staatlich anerkannter Staatsfeind, als ein entlarvter Konterrevolutionär.
In diesem Jahr zottelte mich mein Freund Hans Bunge, Gründer des Brecht-Archivs, auf Eure Insel. Wir machten einen Besuch beim Provinz-Patriarchen Otto Niemeyer-Holstein. Ich erlebte dort eine muntere Gesellschaft im legendären Lüttenort.
An der schmalsten Stelle der Insel, ein Steinwurf zwischen Ostsee und Achterwasser, bei „Käptn“ Niemeyer- Holstein, war ich gleich am ersten Abend auf die komplette Usedomer Künstler-Clique getroffen. Deine Mutter war, glaube ich, nicht auf dieser Fête. Die alte Künstlerin Vera Kopetz bezog dem verfemten Liedermacher für die ersten Tage ein Gästebett in ihrem Reetdach-Häuschen am Rande Eurer Waldsiedlung. Mit dem alten Maler Otto Manigk verstand ich mich am besten. Der knorrige Kerl mit dem kantigen Schädel nahm mich dann auf, als wäre es für immer. Ich hauste fortan bei ihm in seinem Atelier in der Waldstraße und wurde über die Jahre als Worte-Bildner fast ein Mitglied in Eurer Maler-Enklave.
Ottos Frau Ingeborg fütterte mich durch, als wäre ich ein redseliger Bruder ihres wortkargen Sohnes Oskar. Und ich besuchte oft seinen Cousin, Matthias Wegehaupt.
Und so freundete ich mich eben auch, zwei Häuser weiter, mit Euch an: mit Dir, mit Deinen Eltern Susanne und Manfred.
Ich foppte die Beiden manchmal mit dem gutgemeinten Spottnamen „… die zwei Wellensittiche“, weil sie – aus meiner Perspektive – wie ein Pärchen unzertrennlicher Wellensittiche im DDR-Bestiarium rumflatterten. Euer Haus kam mir vor wie ein vergoldeter Vogelkäfig am Waldesrand.
Susanne und Manfred produzierten, so sah es mir aus, „ohne Hast, ohne Rast“ (Goethe) allerhand Zeug zwischen Kunst und Kunstgewerbe, halb frei, halb Staatsauftrag.
An den Bildern Deiner Mutter konnte ich nicht erkennen, ob die liebliche Manier dieser Malerin eine Masche ist, oder ein Stil. Flucht oder Protest. Auf jeden Fall malte Deine Mutter keine muskelprotz-hingefetzten Helden der Sozialistischen Arbeit im pathetischen Stil des Sozialistischen Realismus.
Und Du kamst mir vor wie eine Rebellin. In meinen Augen kein realsozialistisches Kitschbild, sondern eine junge rothaarige Hexe, ungezähmte Leidenschaft mit Sommersprossen auf der bleichen Haut, Motorrad, Saxophon und Bibel, ein Feuervogel im brennenden Dornbusch. Und Du lebtest damals nicht wie Nonnen ordentlich verlobt mit Jesus Christus, sondern in wilder Ehe mit dem Gekreuzigten.
Deine freche Frömmigkeit paßte ganz gut zu mir Kommunistenketzer.
Fast jeden Tag saß ich in Otto Manigks Atelier, umgeben von seinen frühen Bildern. In abgemafften Farbnuancen die raffinierte Ton-in-Ton-Malerei, wie er sie wohl vor dem Krieg in Frankreich und Italien abgelernt hatte. Halb Metropole Paris, halb Provinz Worpswede.
Als diese Insulaner mich nun aber bei sich beherbergten, gerieten sie in das Scheinwerferlicht des politischen Getümmels. Die Usedomer Kreisleitung der SED wurde panisch, die örtliche Stasi rotierte, der Staatsapparat des Kreises Wolgast drohte mit Maßnahmen. Und in dieser Bedrängnis erwiesen meine unpolitischen Freunde sich als extrem politisch: sie distanzierten sich nicht von mir.
Kannst Du Dich daran erinnern? Sogar sämtliche Lehrer der Insel wurden in jenen Tagen von ihrer Obrigkeit attackiert. Ich habe das Dokument damals selber gesehn: Sie sollten auf einem Treffen sämtlicher Insel-Pädagogen eine devote Protestresolution verabschieden, in der stand geschrieben: „Wir, die Lehrer von Usedom, wollen nicht mit dem Staatsfeind Biermann auf einer Insel leben … wir protestieren dagegen, daß Biermann jetzt in Ückeritz …“ usw. – Tja, und nun erlebten diese Provinz-Apparatschiks ein Wunder: Die Mehrheit der eingeschüchterten Lehrer lehnte diese groteske Resolution ab. Das war eine Sternstunde der Freiheit, na, sagen wir: es war eine helle Sternschnuppe.
Der Rat des Kreises Wolgast bestellte daraufhin mich und Otto Manigk zweimal ein. Im Polizei-Jargon: „Aussprache zur Klärung eines Sachverhalts“. Ich wurde nun schroff aufgefordert die Insel zu verlassen, denn Usedom sei schließlich eine Insel an der Ostsee-Küste, also „Grenzgebiet“ der Deutschen Demokratischen Republik …
Und so drohten sie dem alten Manigk: Er sei doch Mitglied des Verbandes Bildender Künstler der DDR, er lebe doch all die Jahre als Maler von den Auftragsarbeiten im Verband. Daß er den Biermann nun bei sich aufgenommen habe, das sei eine Provokation: So etwas erfülle schon den Straftatbestand § 106, „politische Hetze“. Und so was spreche sich rum. Man habe konkrete Informationen über hetzerische Liederabende in Ückeritz und Koserow, in Benz und Bansin und Lüttenort. Diese Provokationen würden die fortschrittliche Bevölkerung der Insel … empören! Solche Straftaten könnten von den „Organen“ nicht länger geduldet werden! Die Funktionäre drückten wahrscheinlich so blindwütig auf die politische Tube, weil formaljuristisch kein Land sahn. Und die „Quellen“ waren anonym. Die IM durften nicht de-konspiriert werden. Die hatten in Wolgast offensichtlich keine klaren Anweisungen. Und fürchteten sich vor Kritik aus der Hauptstadt: mangelnde Wachsamkeit im Klassenkampf.
Mein alter Otto nickte bedächtig zu all den Vorwürfen und Drohungen. Aber er sagte stoisch nur ein Wort: Nein.
Ein Scharfmacher wollte ihn festnageln: „Sie sind also mit allem bei Biermann einverstanden? – Otto wieder: „Nein.“ – „Was Nein? Also sind Sie nicht mit Biermann einverstanden?!!“ – Otto blieb bei seinem sibyllinischen Nein.
Es kam mir vor wie die Szene in Brechts Galilei, kurz vorm Widerruf des Galileo bei der Inquisition: „So viel ist gewonnen, wenn nur einer aufsteht und NEIN sagt …“
So wurde die Idylle Ückeritz in diesen Monaten ein kleines Widerstandsnest.
Liebe Ricarda, ich weiß nicht, welchen Schikanen und Ängsten auch Deine Eltern damals in der Waldstraße ausgesetzt waren. (Entzug von Staatsaufträgen für Manfred, den Wandmaler, für Susanne, die Tafelmalerin. Vielleicht wurden Ausstellungen verhindert, Verbot von Reisen ins sozialistische Ausland, in den Westen. Und die übliche Drohung eines Ausschlusses aus dem Verband Bildender Künstler der DDR … wer weiß was noch … ) – all die verschiedenen Register auf der staatlichen Schikanen-Orgel.
Allein die Tatsache, daß Deine Eltern sich – genau so wie die ganze Maler-Clique in Ückeritz, in den finsteren Zeiten sich nicht abwandten von dem gebranntmarkten Staatsfeind Wolf Biermann, war ermutigend. Auch die brutalste Diktatur macht eben nicht aus allen Menschen Schweinehunde.
Und es stimmt, was Du mir schreibst: Ich habe Deinen Eltern bei mancher Gelegenheit meine neuesten Lieder vorgesungen und ihnen die neuesten Gedichte zugesteckt.
Im Westen dann, also nach meiner Ausbürgerung 1976, brach mein Stoffwechsel mit den alten Freunden im Osten fast ab.
Aber dreizehn Jahre später, als plötzlich die Mauer fiel, begegneten wir einander so vertraut, als wäre inzwischen keine Epoche vergangen. Ich erinnere mich: Ich kam auf die Insel zurück und sang zur Beerdigung Deines Vaters – auf Wunsch Deiner Mutter – ein tröstliches kleines Lied am Grab:
„Und wenn ich tot bin, Liebster ,
sing mir kein Lied voll Schmerz …
kannst Du das erinnern? Oder sang ich diese Verse etwa erst sechs Jahre später am Grab Deiner Mutter?
Sie sah jünger aus, aber war doch – vermute ich – ein bißchen älter als Manfred. Und sie starb später als ihr Mann. Foppt mich etwa mein Gedächtnis? Verrückter Gedanke: War Manfred Kandt überhaupt Dein leiblicher Vater? Oder zeugte Dich etwa ihr erster Mann, der gefallene Offizier im Hitlerkrieg? Mir ist jede Variante willkommen. Das wäre dann ähnlich wie bei mir: meinen „Ersten“, meinen wunderbaren Sohn Manuel habe ich nicht „selber gemacht“, er wurde mir von Brigitt Soubeyrand in Ostberlin geboren, als er schon paar Monate alt war, 1957 im Berliner Ensemble.
Vor meinem inneren Auge habe ich einige Bilder und Zeichnungen, die Deine Mutter von uns damals gemalt hat. Brigitt, Manuel, Jonas, Wolf, Gitarre.
Was – fällt mir jetzt ein – was war das eigentlich für ein Biermann-Bild, das Du vorsorglich lange Jahre zu DDR-Zeiten, in Deinem Atelier hinter einer Papp-Wand am Bett versteckt hattest? Gibt“s das noch? War es von Deiner Mutter gemalt? Oder von Dir? Kannst Du mir das mal abfotografieren?
Ich habe grade ein neues Gedicht im Computer, das Deiner Mutter als Geschenk zum 100. Geburtstag womöglich ganz gut gefallen hätte, eine Art Xenie, (n.b.: griechisch ≈ Gastgeschenk) – also eigentlich gar kein richtiges Gedicht, sondern, seit Goetheschillers berühmten „Xenien“, nur ein polemisch pointierte Randbemerkung.
In diesen zwei Vierzeilern fixiere ich die ermutigende Erfahrung, daß im Elend der übermächtigen Diktatur es trotzalledem immer auch Widerstand und Solidarität gibt. Ohne so gute Menschen wie Susanne wäre ich in der DDR hoffnungslos verzweifelt.
Der französische Philosoph Emile Cioran, dem ich mein Lied „Melancholie“ gewidmet und in Paris, in der Wohnung von Manés Sperber, vorgesungen hatte, schrieb mir im Oktober 1989 in einem Brief: „Diejenigen, die das Glück haben, an Melancholie zu leiden, sind Komplize für immer.“
Das ist wahr. Nur solange ich meine melancholische Balancierstange halte, also die Balance zwischen begründeter Verzweiflung und begründeter Hoffnung, kann ich auf dem Drahtseil heil über den Abgrund kommen.
Apropos Balance. Als ich damals zwölf Jahre lang den Helden-Clown im DDR-Zirkus spielte, da war mein Seil gefährlich hoch gespannt, direkt unter der Zirkuskuppel.
Seit ich aber im freiheitlichen West-Zirkus auftrete, ist das Seil nur noch halb so hoch gespannt über der Manege. Kaum noch Todesgefahr in der Demokratie – man fällt weich. Das Netz des Rechtstaates fängt den Stürzenden auf.
Ich spiele inzwischen raffinierter Gitarre, komponiere ideenreicher und dichte dichter. In der westlichen Hälfte meines Lebens habe ich mir dann sogar den doppelten Salto eintrainiert. Als Artist auf dem Seil bin ich besser als vordem. Aber eben alles knapp über dem abgepolsterten Boden. Der Todes-Kitzel fürs zahlende Publikum ist fast futsch.
Zwei Nachrichten
Die gute, zuerst, ist sympathisch:
Es macht Diktatur allein
Ja nie nirgendwo automatisch
Aus jedwedem Menschen ein Schwein.
Die schlechte Nachricht: Demokratie
Macht Tote nicht wieder gesund
Sie zaubert den Guten Menschen nie
Aus jedwedem Schweinehund