Ein hundertster Geburtstag! Ich blicke zurück. Es ist nicht zu fassen: 25 Jahre sind bereits seit den bewegenden Tagen vergangen, in denen die Bürger der DDR auf die Straße gingen und unüberhörbar jenen Prozess in Gang setzten, der die furchtbare, unentwegt die Welt gefährdende Frontlinie auslöschte, die die Siegermächte des 2. Weltkrieges quer durch Deutschland gezogen hatten.
25 Jahre! Wie viel näher war man den Ereignissen des 2. Weltkrieges, als 1952 Susanne Horn, deren Mann in den letzten Kriegstagen gefallen war, und der schwer verwundete Manfred Kandt zueinanderfanden. Die Städte zerstört, das Land schuldbeladen, verstümmelt, zerstückelt, die Menschen allesamt beschädigt.
Keine Kraft für Trauer, für Tränen und Blicke zurück: Neubeginn.
Manfred Kandt hatte durch Freunde aus Ostpreußen, die mit Usedomer Künstlern bekannt waren, für sich den Ort Ückeritz entdeckt. Selbst dieser abgeschiedene Inselort hatte die verstörenden Kriegsgeräusche zu hören bekommen.
Nun klangen statt der Explosionen von Splitterbomben, dem Sirenengeheul und des Ratterns der Bordkanonen von Tieffliegern wieder die Geräusche von Bauarbeiten durch die Waldstraße. Auch Manfred Kandt begann zu bauen. Mit bewundernswerter Energie und großem Organisationstalent errichtete er ein Atelierhaus: unermüdlich arbeiten.
Es fiel Susanne Kandt-Horn sicher nicht leicht, ihm mit ihren beiden Kindern in ein Dorf des herben Nordens zu folgen. Aber immerhin waren hier das Rauschen des Waldes und das Rauschen des Meeres. Hier gab es die Weite, den großen Himmel und einen Freundeskreis von Malern, die Krieg und Gefangenschaft überlebt hatten. Eigentlich waren sie in den Kunstzentren der Welt zu Hause, aber ihre Ateliers in Berlin lagen in Trümmern. Etwas von der Weite der Welt und der Kultur der Städte hatten sie mit ins Dörfliche gebracht. Die „Waldstraßengespräche“ wurden auch für Susanne Kandt-Horn wichtig.
Vom Kreis der Ückeritzer Malerfrauen und deren Freundinnen wurde Susanne Kandt-Horn mit offenen Armen empfangen. Mit ihrer Herzlichkeit und großzügigen Gesinnung gewann sie überall Freunde. Ich höre, als wäre es heute, die Töne angeregter Plaudereien, das befreiende Lachen und die Klänge ungebrochener Zuversicht und Lebensfreude, wenn sich die Damen, wie in anderen Häusern, auch in unserem Haus trafen.
Das schilfgedeckte Malerhaus der Kandt-Horns war von Anfang an ein offenes, gastliches Haus. Das Klappen von Autotüren schallte durch die Stille der Waldstraße. Besucher. Der prächtige, mit Sachverstand gepflegte Garten, gedieh. Im Haus schien jeder Winkel ein geschmackvolles Stillleben zu sein: Die Kultur einer alten Familie überall sichtbar. Noble Dinge und üppige Pflanzen, die in den Bildern der Malerin weiter wuchern und blühen wollten. Der Vorsatz der Bewohner, die die düsteren Kriegszeiten überlebt hatten, schien zu sein, Paradiese zu bauen und unbeirrt an die Möglichkeit einer heilen harmonischen Menschenwelt zu glauben. Mit der Malerei beglücken. Wir sind die, die sich bemühen, die Guten zu sein.
Das alles lockte düstere Kräfte. In Tagen der Abwesenheit von Kandt-Horns eroberten heimlich Wanzen das üppig Wuchernde. Die Stasi wurde von Stund an heimlicher, unentwegt misstrauisch lauernder Gast.
Nach der Wende bekam ich die beklemmende Niederschrift eines Gesprächs, das Susanne Kandt-Horn und ich von Wanzen belauscht an ihrem Tisch miteinander geführt hatten: ein paar Aktenseiten verstümmelter Sätze und entstellter Worte. Geräusche lauschend in die Maschine getippt. Mich packte das Grauen: Die Stasi hatte versucht, den Ort überschwänglicher Herzlichkeit als Falle zu benutzen.
Heute funktioniert Überwachung anders.