29. Abschied II

Sie malte beim Niemeyer mit den überlangen Pinseln und dieser schlug ihr mit der Hand auf deren Stiel, um zu prüfen, ob sie ihn auch locker hielt, wie er ihr das nahegelegt hatte, als sie weg ging von zu Hause, wo es all das nicht gab, was es auf Usedom gab. Auf Usedom schaute man hin, guckte zu. Niemeyer zelebrierte zumindest beim Unterricht den Meisterblick. Alle Valeurs einer Schattenkante von einem Steinguttopf im Unterschied zu der eines Messingtopfs wurden studiert. Und während sie das alles probierte, verließ sie die ganze Zeit ihr Elternhaus und verließ und verließ auf wunden Füßen.

In Eisenach im Palmental hatte man sich wie auf einem anderen Stern befunden, jedenfalls nicht in jenem die Welt bereits mit Komfort und Genuß beglückenden bürgerlichen Zeitalter, wo man über Geld sprach und über Krankheiten und hin- oder zu- oder draufguckte auf die Welt – das Objekt. Bacons bacon.

Im Palmental gab es nicht den Meisterblick, noch den Detektivblick, noch den Übern-Gartenzaun-durchs-Schlüsselloch-Nachbarblick, noch den mildtätig machthungrigen Ich-bin-gut-Blick, noch den Verwertungsblick, noch den Arztblick, noch den Geschäftsblick (was kann ich herausschlagen), noch den kritischen Blick des ambitionierten Zeitgenossen (wo ist die Leiche?), noch den schamlosen Frauenblick (Kleidersaum schief, Gesicht blutarm, soll sich schminken, muß 5 kg abnehmen, die Kuh), es gab vielleicht nicht mal den königlichen oder proletarischen Blick des Großen auf die Größe, nichts davon gab es zu Hause, es gab weder derlei Sehen noch derlei Ding (Objekt), es gab nur das Gesicht und sein Ansehen und das Ansehen ist nicht zusehend (was für ein Wort), noch dialogisch, es ist verkündigend: Ich erwähle dich, ich verkündige dir große Freude, sagt das Ansehen. In dem Ansehen des anderen Gesichts „zeigt sich das niemals einholbare, unendliche absolute Andere und das, indem es, dich ansehend, dir eine völlig offene Anti-Welt des immer Anderen eröffnet, dieses Ansehen, das aus sich die Sprache übersteigt und spricht „Du sollst nicht töten/Du wirst nicht töten“, schreibt Emanuel Lévinas, [1] auf den wir uns hier einlassen müssen, weil es niemanden sonst auf der Welt gibt, der beschreiben könnte, was im Palmental los war.

SKH im Abendkleid

SKH 1955 auf Usedom im aus der gelben Fallschirmseide ihres gefallenen Mannes selbst genähten Abendkleid mit ebenfalls selbst genähter Stola aus weißem Pelz

Das Ansehen bedarf deiner gesammelten Gewaltlosigkeit, denn du mußt es ertragen. Schon bei dem kleinsten Gedanken, daß du es nicht haben willst oder es irgendwie so oder so findest, ist es weg, hast du es getötet. Das Ansehen bedarf, um sich dir zu geben, deiner gesammelten Gewaltlosigkeit, wiegesagt. Du mußt also, bildlich gesprochen, ohne Sauerstoffmaske einen 8000ern besteigen und von dort einen Blick über ein Land jenseits aller Form werfen, denn die Form ist ja schon Gewalt, aber die Dinge der Form kommen rätselhafterweise nicht aus der Gewalt. Das wird die Malerin Susanne noch erfahren und darüber sprechen, s.u. Wenn dich das Ansehen trifft, wie es dich im Palmental traf, hast du also 2 Möglichkeiten: Entweder du zerstörst es, indem du es unterwirfst, indem du es in eine dir vertraute Form preßt, indem du es dir gleich machst, weil du dich eingerichtet hast im Unansehlichen, Sicheren und nichts duldest, was dir fremd ist und immer fremd bleiben muß, weil es ja sonst nicht mehr der/die/das Andere ist.

Du machst es dir gleich durch den Verstand. Du erkennst es mit deinem griechisch erzogenen Denken. Z.B. analysierst du es nach kritischen oder psychologischen oder Stasi- oder NSA-Parametern. Fort ist der Andere. Aber der Andere, der immer und ewig Andere, der, der dich ansieht, ist der Messias, behauptet Lévinas (und für diese Behauptung liebte ihn nicht nur der große Dekonstruktivist Derrida, „ich liebe Sie“ soll er auf einem Kongreß gerufen haben). Bedenke also, was du tust. Willst du den Messias töten? Du hast eine Alternative. Du kannst dich dem Anderen unterwerfen. Die Bewohner des Hauses im Palmental unterwarfen sich dem Anderen mit aller dem Menschen irgend möglichen Wunderlichkeit und gebotenen kindlichen Fraglosigkeit und ihr Eintritt in die Welt, das war und ist die Welt der Bürger, wo es das Ansehen nicht gab und wo es verachtet wurde, kam der Sturzgeburt Anna-Susannas gleich und ging gar nicht immer gut aus. Wir müssen also um Susanne bangen, die im Begriff ist, ihr Haus des Ansehens zu verlassen und in das Haus des Bürgerblicks zu wechseln. Wir müssen beten, daß ihre Geschichte gut ausgeht, was immer das heißt.

SKH: Am Abend

SKH „Am Abend“, 1974, Öl/Hf, 87 x 62 cm

 

Fussnoten

  1. zit. bei Taureck „Emmanuel Lévinas“ Hamburg 1997, S. 65; Lévinas „Totalité et infini“ Den Haag 1961, S.8